Wer neu anfangen will, der muss das Bewährte mitnehmen.
Im Herbst soll politischer Frühling sein. Dieser kommt nicht zu früh, nachdem in den letzten Jahren die sozialen Beziehungen stark gelitten haben. Gleich zweimal, 2010 und 2011, scheiterte die Tripartite, weil die Regierung vergeblich die Zustimmung des OGBL für strukturelle Verschlechterungen des Index und für andere sozialen Einschnitte haben wollte.
Sollten jene politischen Parteien, die nach dem 20. Oktober die neue Regierung stellen werden, diese Politik fortsetzen wollen, werden sie weder „neu beginnen“, noch unser Sozialmodell festigen und entwickeln helfen.
Wer neu beginnen will, der muss vielmehr einkommens-, sozial- und steuerpolitische Wege beschreiten, die das Langbewährte des luxemburgischen Sozialmodells wieder zum leitenden Prinzip der Politik machen.
In diesem Zusammenhang spielt unser nationales System der Lohnfindung eine zentrale Rolle. Sein originelles Zusammenspiel von gesetzlichem Mindestlohn, Index und Kollektivvertragswesen wahrt seit langem den sozialen Frieden und die Attraktivität des Wirtschaftsstandortes Luxemburg.
Zu keinem Moment hat es die internationale noch nationale Wettbewerbsfähigkeit und Wirtschaftskraft der Luxemburger Betriebe in Frage gestellt. Den Arbeitnehmern hat es lange Zeit Lohn- und Kaufkraftentwicklungen gesichert, die wenngleich nicht ganz, so doch annähernd der Produktivitätsentwicklung der Betriebe entsprochen haben.
Der OGBL fordert, den Index ohne Abstriche wiederherzustellen. Wer noch?
Seit 2006 gibt es von seiten der Regierung Angriffe auf das Indexsystem. Und seit 2006 steht der OGBL synonym für Gegenwehr und für die führende gesellschaftspolitische Kraft, die sich konsequent für die Zukunft des bewährten luxemburgischen Systems der Lohnfindung einsetzt. Auch nach dem 20. Oktober wird der OGBL diese Linie nicht verlassen.
Und wie sieht die Antwort der politischen Parteien auf dieses wichtige Thema aus? Sie sind aufgefordert den Wählerinnen und Wähler in den kommenden Wochen konkret, d.h. nicht oberflächlich oder schwammig ausweichend zu sagen, ob und wie sie zu unserem nationalen System der Lohnfindung stehen.
An präzisen Fragen, die nach klaren Antworten verlangen fehlt es nicht.
Wollen sie, wie der OGBL es fordert, den normalen Index ohne weitere Manipulationen wiederherstellen oder wollen sie es nicht? Im negativen Fall müssen sie der Wählerschaft jetzt darlegen, wie sie ihn manipulieren bzw. strukturell verschlechtern wollen.
Der „gedeckelte“ Index: der populistische Schein ist in Wirklichkeit eine Umverteilung von unten nach oben.
Lehnen sie, wie es der OGBL tut, den von Staatsminister Jean-Claude Juncker angekündigten „gedeckelten“ Index kategorisch ab und werden sie den Populismus dieses Angriffs auf den Index entlarven ? Beim OGBL besteht volle Klarheit über die desaströsen Folgen für die Arbeitnehmer: der „gedeckelte“ Index entwertet erstens die Löhne der Mittelverdiener, er setzt zweitens die Löhne der Kleinverdiener und den gesetzlichen Mindestlohn massiv unter Druck, drittens bahnt er den Weg für die totale Abschaffung des Index und viertens lässt er die Hoch- und Spitzenverdiener als einzige ungeschoren, weil diese sich auf ihre gewohnte Art und Weise mit ihrem Arbeitgeber arrangieren werden. So einfach ist der Unterschied zwischen dem populistischen Schein und der Realität im Porte-monnaie der meisten Arbeitnehmer.
Und wie halten es die Parteien mit anderen Optionen struktureller Verschlechterungen, wie beispielsweise mit den Manipulationen des Warenkorbs (z.B. Entfernen der Erdölprodukte) oder mit solchen, die den Nichterfall oder das Hinauszögern von Indextranchen an politisch zu jeder Zeit leicht zu deklarierenden wirtschaftlichen „Schwierigkeiten“, oder „Wachstumsschwächen“ oder „Wettbewerbsnachteile“ u.a.m. koppeln wollen?
Hände weg vom gesetzlichen Mindestlohn.
Neben dem Index ist der Mindestlohn der zweite gesetzliche Pfeiler unseres Lohnsystems. Seit 2010 fahren bestimmte Arbeitgeberkreise, von der OECD dazu ermutigt, Angriffe gegen den gesetzlichen Mindestlohn und gegen dessen periodischen Anpassungsmechanismus. Trauriger Höhepunkt dieser Attacken war die skandalöse und absurde Behauptung eines Sprechers der Arbeitgeber, dass der Wert der geleisteten Arbeit der Mindestlohnsverdiener nicht der Höhe des Mindestlohns gerecht werden würde.
Der OGBL fordert die politischen Parteien auf, sich von solchen ideologischen Verirrungen zu distanzieren und sich unmissverständlich zum gesetzlichen Mindestlohn für unqualifizierte und qualifizierte Arbeit zu bekennen. Der gesetzliche Mindestlohn muss weiterhin periodisch an die allgemeine Lohn- und Einkommensentwicklung angepasst werden. Strukturelle Aufweichungen des aktuellen Anpassungsmechanismus sind inakzeptabel.
Das luxemburgische Kollektivvertragswesen: was es ist und was es nicht ist.
Und wie steht es mit dem Kollektivvertragswesen, dem dritten Element des nationalen Lohnsystems? Auch diesbezüglich ist es an der Zeit, an grundsätzliche Fakten zu erinnern, denn es häufen sich in letzter Zeit Verwirrung stiftende Aussagen über das luxemburgische Kollektivvertragswesen.
Dazu nur ein Beispiel, das sich der Wiederholung erfreut: „Für viele Arbeitnehmer, die keinen Kollektivvertrag haben, stellt der Index die einzige Lohnerhöhung dar.“
Unabhängig von der Tatsache, dass der Index keine „Erhöhung“ der Löhne, sondern lediglich eine Anpassung der Löhne und der Kaufkraft an die vorausgegangene Preisentwicklung ist, und unabhängig von der sozialen Ungerechtigkeit, dass es für viele Arbeitnehmer keine realen Lohnerhöhungen gibt, was ja nichts anderes bedeutet, dass in ihren Betrieben die Produktivitätssteigerungen integral in die Taschen ihrer Arbeitgeber fliessen, vermittelt das gut gemeinte Argument für den Erhalt des Indexsystems leider ein falsches Bild über das luxemburgische Kollektivvertragswesen. Es legt nämlich nahe, dass die Kollektivverträge einen Indexverlust auffangen oder „kompensieren“ könnten.
Diese Darstellung ist falsch. Das luxemburgische Gesetz über die Kollektivverträge und seine Verhandlungen ist nämlich grundsätzlich so aufgestellt und konzipiert, dass es von einem intakt funktionierenden gesetzlichen Indexmechanismus ausgeht, diesen als allgemeine Rahmenbedingung voraussetzt. In seiner Struktur und Funktionsweise ist es überhaupt nicht auf die Verhandlung der Anpassung der Löhne an die Inflation ausgerichtet, sondern ausschliesslich auf die reale wirtschaftliche Situation und Produktivität der einzelnen Betriebe bzw. Betriebsbereiche.
Mit anderen Worten: Bei den Kollektivvertragsverhandlungen geht es um die reale Entwicklung der Löhne und der Arbeitsbedingungen – die übrigens je nach Lage der Dinge positiv oder negativ sein kann.
Diese dezentrale Tarifpolitik ist übrigens nicht nur für die Arbeitnehmer, sondern vor allem auch für die Betriebe in vielerlei Hinsicht von grossem Vorteil.
Wollen wir wirklich diese dezentrale Tarifpolitik abschaffen, einen Schritt, der im Übrigen eine grundlegende Reform der Kollektivvertragsgesetzgebung voraussetzen würde?
Wollen wir allen Ernstes ein Tarifmodell aufgeben, das kombiniert mit dem gesetzlichen Indexmechanismus seit Jahrzehnten dem Land den sozialen Frieden, eine hohe Stabilität der sozialen Beziehungen und die Attraktivität des Wirtschaftsstandortes absichern hilft?
Wollen wir durch blinde Attacken gegen den Index das gesamte System der nationalen Lohnfindung unterwandern und den Weg von gefährlichen sozialen Abenteuer einschlagen?
Die Brüsseler „Vorschläge“: Gefährliche Experimente, die nicht im Interesse Luxemburgs sind.
Der OGBL wird diesen Weg nicht mitgehen. Er fordert deshalb alle Parteien und alle Kandidaten, die sich am 20. Oktober zur Wahl stellen und Regierungsverantwortung übernehmen wollen, auf, sich unmissverständlich für die Absicherung unseres nationalen Modells der Lohnfindung auszusprechen.
Und sie sind aufgerufen, sich bei den Wählern und Wählerinnen zu engagieren, dass sie den sogenannten „Vorschlägen“ der Brüsseler Kommission und des Europäischen Rats, die gegen unser Indexsystem und gegen unser nationales Modell der Lohnfindung gerichtet sind, eine ebenso konsequente Absage erteilen.
Vor den Wahlen und nach den Wahlen.
André Roeltgen Generalsekretär des OGBL
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