Das jährliche Mitarbeitergespräch

Ein Hebel für Entwicklung und Weiterbildung, kein Instrument zur Stigmatisierung und schon gar nicht für eine Entlassung!

„Ich habe gerade mein jährliches Bewertungsgespräch hinter mir und muss zugeben, dass ich ziemlich beunruhigt bin. Aus dienstlichen Gründen hatte ich keine Zeit, mich mit dem neuen Verwaltungstool vertraut zu machen, das unser Unternehmen vor kurzem eingeführt hat. Leider hat sich dieser Mangel in meiner Bewertung niedergeschlagen, die weit hinter meinen Erwartungen zurückbleibt. Jetzt habe ich Angst, dass dieses Gespräch, das eigentlich als Hebel für meine Entwicklung und Ausbildung gedacht war, mir schaden könnte. Was kann ich tun?“
Marc Bernard, 46 Jahre, 12 Jahre in dieser Position, Vater von 3 Kindern.

Im Finanzsektor spielt das jährliche Bewertungsgespräch eine zentrale Rolle in der Beziehung zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Viele von Ihnen haben es bereits hinter sich oder werden sich in Kürze darauf vorbereiten.

Es ist wichtig, daran zu erinnern, dass dieses Gespräch seinem Hauptzweck treu bleiben muss: der jährlichen Überprüfung des individuellen Ausbildungsplans. Diese vertraglich vereinbarte Verpflichtung ist ein entscheidender Pfeiler, der es jedem Arbeitnehmer ermöglicht, seine Kompetenzen zu stärken und in seiner beruflichen Laufbahn voranzukommen. Und dieses Gespräch sollte zu keinem anderen Zweck dienen.

Bildung: ein Recht und eine Priorität

Das jährliche Mitarbeitergespräch ist eine einzigartige Gelegenheit, den Lernbedarf jedes einzelnen Mitarbeiters zu ermitteln. Es ist ein guter Zeitpunkt, um über die erworbenen Kompetenzen, die Verbesserungsmöglichkeiten und die beruflichen Wünsche zu sprechen. Die Branchenkollektivverträge für Banken und Versicherungen (Artikel 31 des Banken-Kollektivvertrags und Artikel 12 des Versicherungs-Kollektivvertrags) sehen ausdrücklich vor, dass dieses Gespräch dazu dient, den individuellen Weiterbildungsplan zu aktualisieren, um die Kompetenzen der Beschäftigten an die Entwicklung ihres Arbeitsplatzes und die künftigen Bedürfnisse des Unternehmens anzupassen.

Stigmatisierungsrisiko

Einige Unternehmen weichen vom ursprünglichen Zweck des jährlichen Mitarbeitergesprächs ab, indem sie es in ein Druck- oder Sanktionsinstrument verwandeln. Dieses Gespräch zu nutzen, um Arbeitnehmer als „Low Performer“ einzustufen oder, schlimmer noch, um Entlassungen zu rechtfertigen, ist eine inakzeptable Praxis. Dadurch wird der Zweck dieses Instruments, das weiterhin auf die persönliche und berufliche Entwicklung ausgerichtet sein muss, völlig verfehlt. Ein Bewertungsgespräch auf ein reines Performancelabel zu reduzieren, ist nicht nur ungerecht, sondern auch kontraproduktiv. Arbeitnehmer, die auf Schwierigkeiten stoßen, benötigen in der Regel zusätzliche Schulungen oder eine angemessene Betreuung und nicht, dass sie stigmatisiert werden.

Darüber hinaus nutzen einige Unternehmen das Gespräch als Grundlage für die Vergabe von Boni oder Gehaltserhöhungen. Es ist wichtig, daran zu erinnern, dass diese Kriterien in Unternehmen mit mehr als 150 Beschäftigten unter die Mitentscheidung mit der Personaldelegation fallen. In Unternehmen mit weniger als 150 Beschäftigten muss der Vergabe eine Konsultierung und Stellungnahme der Delegation vorausgehen, die auf einer genauen Kenntnis der Umstände und der Kriterien beruht.

Ein fairer und transparenter Rahmen

Um eine faire und ausgewogene Nutzung des jährlichen Mitarbeitergesprächs zu gewährleisten, müssen die im Kollektivvertrag festgelegten Regeln unbedingt eingehalten werden. Der Dialog zwischen dem Arbeitnehmer und seinem Vorgesetzten muss konstruktiv bleiben und auf klaren, messbaren und erreichbaren Zielen basieren. Auf keinen Fall darf das Gespräch zum Anlass genommen werden, um Disziplinarmaßnahmen oder Entlassungen zu rechtfertigen.

Die Rolle der Gewerkschaft: Die Rechte der Arbeitnehmer sichern

Der OGBL achtet darauf, dass die Rechte der Arbeitnehmer in allen Betrieben des Finanzsektors respektiert werden.

Wir erinnern daran, dass das jährliche Mitarbeitergespräch ein wohlwollendes Bewertungsinstrument bleiben muss, das dazu gedacht ist, die Arbeitnehmer zu ermutigen, Fortschritte zu machen, ihre Kompetenzen zu stärken und ihre berufliche Zukunft zu gestalten. Jeder Versuch, dieses Instrument zu missbrauchen, um die Arbeitnehmer unter Druck zu setzen oder um Entlassungen zu rechtfertigen, wird von der Gewerkschaft und den OGBL-Delegationen in den Betrieben entschieden bekämpft.

Fazit: Ein Engagement für Bildung und Respekt

Das jährliche Mitarbeitergespräch ist ein entscheidender Moment, um die Anstrengungen der Beschäftigten anzuerkennen, Herausforderungen zu besprechen und konkrete Lösungen für ihre Entwicklung in Betracht zu ziehen. Es muss ein Instrument im Dienste der Arbeitnehmer bleiben und darf nicht als „Klassifizierungsmaschine“ oder als Vorwand zur Ausgrenzung von Mitarbeitern dienen. Der OGBL wird sich weiterhin dafür einsetzen, dass dieses Gespräch sinnvoll eingesetzt wird, im Interesse der Arbeitnehmer und des Sozialdialogs.

Sollten Sie sich in einer solchen Situation befinden und aufgrund des Ablaufs Ihres Bewertungsgesprächs Zweifel haben oder Änderungen, Ergänzungen oder Nebenerklärungen einbringen möchten, zögern Sie nicht, sich an Ihre OGBL-Delegierten im Betrieb oder direkt an den OGBL zu wenden.

Dieser Artikel wurde im Aktuell veröffentlicht (1/2025)