Drei Urteile und eine Klage gegen das soziale Europa

Bolkesteins Rückkehr durch die Hintertür?

Vor Kurzem hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in drei Rechtssachen, die für die europäischen Gewerkschaften und die Zukunft des sozialen Europas von herausragender Bedeutung sind, sein Urteil gefällt. Es handelt sich hierbei um die Fälle Laval, Viking und Rüffert.

Viking
Viking Line ist ein finnisches Fährunternehmen, das Eigentümer der unter finnischer Flagge fahrender Fähre Rosella ist, die die Seeverbindung zwischen Tallinn und Helsinki sicherstellt. Viking beabsichtigte, die Rosella umzuflaggen und in Estland zu registrieren, um estnische Seeleute beschäftigen und diesen einen niedrigeren als in Finnland üblichen Lohn bezahlen zu können. Die finnische Gewerkschaft der Seeleute FSU (Finnish Seamen’s Union) versuchte dies mit verschiedenen Mitteln, einschließlich Streik, zu verhindern. Schließlich wurde dieser Fall vor den Europäischen Gerichtshof gebracht, dessen Urteil im Dezember 2007 erging. Der Gerichtshof vertrat die Auffassung, dass in diesem Fall das Recht auf Niederlassungsfreiheit Vorrang vor dem Gewerkschaftsrecht habe, auch wenn er das Streikrecht als ein Grundrecht anerkannte. Des Weiteren verurteilte der EuGH die kollektiven Maβnahmen der Gewerkschaft, mit denen eine Auslagerung in ein Niedriglohnland vermieden werden sollte. Für die Gewerkschaften ist es nicht hinnehmbar, dass das Gewerkschaftsrecht dem Handelsrecht untergeordnet wird. Durch seine Vorgehensweise missachtet der
EuGH die freie Ausübung des Gewerkschaftsrechts, das jedoch in der Konvention
Nr. 87 der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) verankert ist.

Laval und Rüffert
Die Rechtssachen Laval und Rüffert sind sich insofern ähnlich, als beide die Auslegung der Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern in ein anderes EU-Land betreffen. Bei Laval handelt es sich um ein lettisches Bauunternehmen, das lettische Bauarbeiter für die Ausführung von Bauarbeiten nach Schweden entsandt hat. Das Unternehmen weigerte sich jedoch, die Bestimmungen des für die Baubranche geltenden schwedischen Tarifvertrags einzuhalten. Die schwedische Baugewerkschaft beschloss daraufhin gewerkschaftliche Maβnahmen und blockierte die gesamten Baustellen der lettischen Firma Laval in Schweden. Auch dieser Fall wurde vor den Europäischen Gerichtshof gebracht.
Der EuGH verurteilte die gewerkschaftliche Maβnahme, mit der ein Lohndumping vermieden werden sollte. Der EuGH stellte fest, dass gewerkschaftliche Maβnahmen, mit denen nicht nur die in der Entsenderichtlinie aus dem Jahr 1996 festgelegten Mindeststandards durchgesetzt werden sollen, sondern die auch die Gleichbehandlung der aus Lettland entsandten und der schwedischen Bauarbeiter zum Ziel haben, den freien Dienstleistungsverkehr einschränkten. Dadurch öffnet der EuGH sowohl dem Sozialdumping als auch dem unlauteren Wettbewerb Tür und Tor!

In der Rechtssache Rüffert verurteilte der Gerichtshof das Land Niedersachsen, und somit indirekt auch alle anderen souveränen politischen Instanzen in der Europäischen Union wegen der Absicht, auf ein polnisches Unternehmen die in Niedersachsen geltenden gesetzlichen Vorschriften anwenden zu wollen, die vorsehen, dass jedes Bauunternehmen, das den Zuschlag für einen öffentlichen Bauauftrag erhalten hat, den für das Baugewerbe und die Bauarbeiten der öffentlichen Hand geltenden Tarifvertrag einhalten muss.

In allen drei Rechtssachen begründet der EuGH seine Entscheidung gleichermaßen. Der Gerichtshof vertritt die Auffassung, dass die Gleichbehandlung von Arbeitnehmern eine Einschränkung des in Artikel 49 des EU-Vertrags verankerten freien Dienstleistungsverkehrs darstelle. Somit erkennt der EuGH den Sozialdumping in gewisser Weise als rechtmäßig an. Auch wenn die Gewerkschaften in der Dienstleistungsrichtlinie die Streichung des Herkunftslandprinzips erwirkt haben, gerade um Sozialdumping zu vermeiden, so wird durch diese Urteile und die daraus resultierende Rechtsprechung das im Aufnahmeland geltende Recht in vielen Fällen de facto dem im Herkunftsland geltenden Recht untergeordnet werden.

Die Kommission wirft Luxemburg vor, die Richtlinie über die Entsenderichtlinie nicht angemessen in nationales Recht umgesetzt zu
haben

Zur selben Zeit, zu der sich der EuGH mit diesen Fällen befasste, hat die Europäische Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof ein Verfahren gegen Luxemburg eingeleitet mit dem Vorwurf, die Richtlinie 96/71 über die Entsendung von Arbeitnehmern von einem Mitgliedstaat in einen anderen nicht angemessen in nationales Recht umgesetzt zu haben. Im Folgenden wird der komplexe Sachverhalt kurz und verständlich zusammengefasst: Die Kommission wirft dem Groβherzogtum Luxemburg eigentlich vor, bei der Umsetzung der Richtlinie dem Schutz der Arbeitnehmer zu viel Bedeutung beigemessen zu haben, indem es sich zu stark für die Gleichbehandlung von luxemburgischen und aus einem anderen Land entsandten Arbeitnehmern eingesetzt habe. Die Kommission stellt insbesondere die automatische Anpassung der Löhne und Gehälter an die Lebenshaltungskosten in Frage, da eine solche Praxis nach ihrer Auffassung gegen die Richtlinie verstoβe. Des Weiteren führt die Kommission an, dass Luxemburg als Aufnahmeland für die Erbringung von Dienstleistungen nicht dazu berechtigt sei, ausländische Unternehmen, die Arbeitnehmer entsenden, den in Luxemburg für Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge geltenden Rechtsvorschriften zu unterwerfen. Dies verstoβe nach Auffassung der Kommission ebenfalls gegen die Bestimmungen der Entsenderichtlinie.
Schlieβlich weist die Kommission darauf hin, dass Arbeitstarifverträge keine Verwaltungsregelungen darstellten, die „nationalem öffentlichem Recht“ unterliegen.
Dieser Fall ist gegenwärtig vor dem EuGH anhängig und die Schlussanträge der Generalanwältin Frau Verica Trstenjak sind äuβerst besorgniserregend. Die Generalanwältin gibt in den meisten Punkten der Kommission Recht. Sie schreibt: „Wir vertreten die Auffassung, dass es den Mitgliedstaaten nicht frei steht, den Dienstleistungserbringern mit Geschäftssitz in einem anderen Mitgliedstaat die Einhaltung sämtlicher im Bereich des Arbeitsrechts geltenden Bestimmungen abzuverlangen“. Da der Gerichtshof diesen Grundsatz bereits in den Urteilen in den Rechtssachen Viking, Laval und Rüffert bekräftigt hat, besteht die Gefahr, dass ein Teil des luxemburgischen Arbeitsrechts als nicht anwendbar erklärt wird, zumindest für die nach Luxemburg entsandten ausländischen Arbeitnehmer.
Genauer gesagt erklärt die Generalanwältin, dass diejenigen Arbeitstarifverträge, die im luxemburgischen Gesetz für die Umsetzung der Entsenderrichtlinie genannt werden, nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen und nicht als Bestandteil des harten Kerns des Arbeits- und Beschäftigungsrechts der Gemeinschaft angesehen werden können.
Ferner könnten die in Luxemburg für Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge geltenden Rechtsvorschriften nicht auf entsandte Arbeitnehmer angewandt werden, da sie ebenfalls kein Bestandteil des harten Kerns des Arbeits- und Beschäftigungsrechts der Gemeinschaft seien.

Die Generalanwältin bekräftigt sämtliche Argumente der Kommission, mit einer Ausnahme, nämlich im Hinblick auf die automatische Indexanpassung der Löhne und Gehälter. In diesem Fall stellt sie die Unbegründetheit des Arguments der Kommission fest.

Schlussfolgerungen
Es liegt auf der Hand, dass eine solche Argumentationsweise an den Geist der ersten Fassung der Dienstleistungsrichtlinie erinnert, will heiβen an den Geiste „Bolkesteins“.
Wenn der gegenwärtige Vertrag derartige Urteile zulässt und wenn man berücksichtigt, dass im Lissabonner Vertrag Artikel 49 zur Dienstleistungsfreiheit als integraler Bestandteil aufgenommen wurde, derjenige Artikel, auf den der EuGH oben genannte Urteile stützt, dann wird der neue Vertrag auch nichts an diesem unsinnigen politischen Willen ändern, der darauf abzielt, die von den Gewerkschaften im vergangenen Jahrhundert so hart erkämpften sozialen Errungenschaften in den einzelnen Mitgliedstaaten abzubauen. Diese Rechtssachen machen unmissverständlich klar, dass die Europäische Union eine reine Wirtschafts- und Handelsunion ist, in der das Wettbewerbsrecht Vorrang vor allem hat, auch vor dem Sozialrecht und dem nationalen Arbeitsrecht.
Nach Auffassung des OGBL besteht dringender Handlungsbedarf. Er fordert, dass dem Lissabonner Vertrag ein Protokoll für sozialen Fortschritt als Anhang beigefügt wird. In diesem Protokoll muss deutlich zum Ausdruck gebracht werden, dass der Vertrag und insbesondere die Grundfreiheiten im Sinne der Einhaltung der Grundrechte auszulegen sind, also auch im Sinne des Sozial- und des Gewerkschaftsrechts.
Des Weiteren fordert der OGBL, dass die Richtlinie über die Entsendung von Arbeitnehmern gestärkt wird, damit ihre ursprünglichen Zielsetzungen, die einzig und allein dem Schutz der Arbeitnehmer dienten, einschließlich des Schutzes entsandter Arbeitnehmer vor Ungleichbehandlung im Aufnahmeland, eingehalten werden. Schließlich fordert der OGBL, dass der Vorschlag für eine Richtlinie zur Leiharbeit, die der Ministerrat immer noch blockiert, nun endlich angenommen wird.

Mitteilung des OGBL
vom 18. April 2008