Der Mensch muss im Mittelpunkt stehen

Stoppt die Privatisierungswelle im Gesundheitswesen

Zuerst die „Affäre Cloche d’Or“ und dann die „Affäre Junglinster“. Im Wesentlichen illustrieren beide Fälle die Offensive des privaten Kommerzes im luxemburgischen Gesundheitswesen. Sogenannte „Minikliniken“, vom Radiologiezentrum inklusive IRM und Scanner bis hin zur Poliklinik, privat kapitalisiert und profitorientiert sind in Planung oder bereits im Entstehen. Die Profite dieser Privatkliniken sollen über die Tarife unserer Sozialen Sicherheit und über die Eigenbeiträge der Patienten eingefahren werden.

Nach dem Bekanntwerden der „Affäre Junglinster“ richtete die liberale Ärzteschaft (AMMD) einen politischen Hilfeschrei an die Gesundheitsministerin und an den Minister der Sozialen Sicherheit. Doch leider war dies keine Kritik an der Kommerzialisierung unseres Gesundheitswesens, sondern widerspiegelte lediglich korporatistisches Eigeninteresse. Die AMMD hatte nicht damit gerechnet, dass andere Haifische danach trachten, ihr den Markt mit der Gesundheit streitig zu machen.

Dies alles hat nichts mehr mit fortschrittlichen Visionen für die Zukunft unseres Gesundheitswesens zu tun. Im Gegenteil. Das öffentliche Gesundheitswesen soll Schritt für Schritt demontiert werden. Zugleich auch die Soziale Sicherheit, wie wir sie heute kennen.

Naiv ist der, der noch daran glaubt, dass ein nach kommerziellen Profitregeln funktionierender Gesundheitsmarkt wichtige soziale Errungenschaften, wie beispielsweise die obligatorische Konventionierung der medizinischen und pflegerischen Leistungen mitsamt ihrer Tarifbildung, nicht angreifen würde. Dies wird geschehen, und zwar schrittweise, bis die obligatorische Konventionierung definitiv nicht mehr allgemein bindend sein wird und sie bestenfalls zerstückelt und, zu einer „Minimalversorgung“ zurückgestützt wird, falls dieser Entwicklung kein Einhalt geboten wird.

Die kommerzielle Liberalisierung unseres Gesundheitswesens wird die Liberalisierung der Tarife nach sich ziehen. Konsequenz wird eine  Kostenexplosion ohne Gegenleistung sein.
Sie wird, wie wir es aus anderen Ländern kennen, in die Zweit- bzw. Drittklassenmedizin und Pflege in Luxemburg einmünden. Die Lobbyisten des privaten Versicherungsmarkts mit der Gesundheit reiben sich jetzt schon die Hände.

Die Patronatsorganisationen werden diese Entwicklung mit Wohlwollen aufnehmen und sie begleiten. Erinnern wir uns, um ein Beispiel zu nennen, an die bislang glücklicherweise gescheiterten Versuche der Arbeitgeber, das paritätische System der Sozialbeiträge in Frage zu stellen.

Wo bleibt die politische Gegenwehr? Eine Gegenwehr, die sich nicht darauf beschränkt, defensiv die Schützengräben ständig nach hinten zu verlagern, sondern die offensiv das öffentliche Gesundheitswesen als sozial fortschrittliches Gegenstück im Interesse aller absichert, stärkt und ausbaut.

Es ist nämlich nicht so, dass es der medizinisch-technische Fortschritt ist, der darüber entscheidet, ob sich im Gesundheitswesen der private Kommerz ausbreitet oder nicht. Der medizinisch-technische Fortschritt eröffnet „lediglich“ neue Möglichkeiten der Diagnostik, der Therapie und der Pflege. Weniger invasiv, weniger stationär, weniger zeitraubend, wirkungsvoller und schonender. Mit neuen Qualitäten und Erkenntnissen.

Ob allerdings diese neuen Möglichkeiten für alle zugänglich, oder aber, einfach ausgedrückt, von der Einkommenssituation des Menschen abhängig sein werden, entscheidet nicht der medizinisch-technische Fortschritt, sondern die Politik.

Sollte der universelle Zugang zu den Gesundheitsleistungen abgesichert werden, dann muss die luxemburgische Gesundheitspolitik ihre seit Jahren chronisch fortgesetzten Versäumnisse überwinden und ohne weiteren Zeitverlust jene Reformen in die Wege leiten, die notwendig sind, um die Organisation und Struktur des öffentlichen Gesundheitswesens an die Entwicklungen des medizinisch-technischen Fortschritts anzupassen und auszubauen. Um unser Gesundheitswesen gesetzlich abzusichern gegen einen profitorientierten Gesundheitsmarkt in den Händen privater Personen oder Gesellschaften.

Die politischen Spielräume sind vorhanden, trotz der grundlegend falschen Zielsetzungen der neoliberalen Politik und Gesetzgebung auf Ebene der Europäischen Union, die die nationalen Gesundheitswesen einer kapitalistischen Profitlogik unterwerfen wollen.

Vergleichbar mit dem Krankenhauswesen muss ebenfalls im ambulanten Bereich der Aufbau und die Förderung von öffentlichen Leistungsstrukturen das leitende Prinzip der Gesundheitspolitik sein.

Dringend erfordert ist eine umfassende Bedürfnisanalyse, die neben der stationären Versorgung alle Bereiche der ambulanten Gesundheitsversorgung erfasst. Sie muss in eine mehrjährliche Planung aller wesentlichen Bestandteile der Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens einmünden.

Neben einer Reform der Krankenhausplanung muss es zu einer gesetzlichen Planung und Regulierung der ambulanten Bereiche kommen. Diese beinhaltet die einzelnen pflegerischen und medizinischen Leistungsbereiche und ihre professionelle Ausstattung, ihr flächendeckendes Leistungsnetz, die Struktur und der Umfang der notwendigen medizinisch-apparativen und administrativen Ausstattung. Ebenso müssen in einem solchen Plan die Konzeptualisierung und der Aufbau der Versorgungs- und Behandlungsketten und ihrer Vernetzungen, die zu vollziehenden Investitionen und der Aufwand der notwendigen öffentlichen Finanzierung definiert werden.

Der sogenannte „virage ambulatoire“ ist ein zentraler Themenpunkt des aktuell stattfindenden „Gesondheetsdësch“. Bei der Diskussion über die Leistungsverschiebung von der stationären Versorgung hin zu mehr ambulanter Behandlung muss der Aufbau und die Förderung öffentlicher Strukturen und Einrichtungen die absolut richtungsweisende Priorität genießen. Diesbezüglich gilt es folgende Punkte zu beachten:

  1. Die Entwicklung ambulanter Einrichtungen außerhalb der Krankenhäuser muss statutarisch in die Betriebsstruktur der Krankenhäuser eingebettet werden.
  2. Ergänzend dazu muss der Aufbau einer neuen nationalen öffentlichen Struktur mit dezentral-ambulanter Ausrichtung dringlich ins Auge gefasst werden. Diese nationale öffentliche Einrichtung würde nicht nur dezentrale Leistungsstrukturen insbesondere für extrahospitale Diagnostik, Therapie und invasive chirurgische Leistungen in besonders kostenintensiven Bereichen und Spezialisierungen anbietet, sondern ebenfalls die allgemeine Medizin und die Psychodiagnostik und –therapie einschließt.

Nur so ist eine fortschrittliche Ausrichtung und Anpassung des luxemburgischen Gesundheitswesens zu gewährleisten. Andere erörterten Varianten müssen unter den Tisch fallen, weil sie jener privaten Kommerzialisierung Tür und Tor öffnen, die fatale Auswirkungen auf unser Gesundheitswesen und auf die Soziale Sicherheit haben würden.

Im Rahmen der Absicherung bzw. Ausbaus der öffentlichen Gesundheitsversorgung muss der Entwicklung der Salariatsmedizin in Luxemburg ein besonderer Stellenwert zugemessen werden. Die Perspektive eines gleichgewichtigen Verhältnisses zwischen der liberalen Medizin und der Salariatsmedizin eröffnet gleichzeitig sowohl die Chance einer objektiveren, weil weniger durch Partikularinteressen verzerrten Diskussion über die Ausrichtung und Gestaltung des Gesundheitswesens als auch die einer gesteigerten Attraktivität der medizinischen Berufe.

Die ambulante Gesundheitsversorgung ist mit hohen und weiter ansteigenden finanziellen Anforderungen verbunden, die im Wesentlichen von öffentlichen Geldern – über den Staatshaushalt und über die Soziale Sicherheit – getragen werden.

Der Anspruch auf ein modernes und sozial fortschrittliches Gesundheitswesen ist nicht von der wichtigen Vorgabe der zielgerichteten effizienten Verwendung der öffentlichen Gelder zu trennen. Beides ist mit der von bestimmten Seiten vertretenen Privatisierung und Kommerzialisierung des Gesundheitswesens unvereinbar. Auch aus diesem Grund muss sich die luxemburgische Gesundheitspolitik den wirtschaftlichen Partikularinteressen mit Nachdruck widersetzen und sie muss über den Weg der Gesetzgebung die wachsende Gefahr der Abhängigkeit vom privaten Kommerz und seiner politischen Lobbyarbeit abwehren.

In den letzten Jahren und nicht erst seit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie sind in vielen Ländern die negativen Auswirkungen der Liberalisierung und Privatisierung der Gesundheitswesen bei gleichzeitiger Vernachlässigung bzw. Abbau der öffentlichen Gesundheitseinrichtungen und ihrer Leistungen offensichtlich geworden. Aus diesen Erfahrungen müssen jetzt die richtigen Lehren gezogen werden: es lohnt sich prioritär in die öffentlichen Dienstleistungen und Einrichtungen zu investieren, sowohl finanziell als auch im Sinne der Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens. Im Interesse aller.

Nora Back
Präsidentin des OGBL
Carlos Pereira
Mitglied des geschäftsführenden Vorstands
André Roeltgen
Berater