Offener Brief an Staatsminister Jean-Claude Juncker

Nein, Herr Staatsminister, die Tripartite ist nicht daran gescheitert, dass die Gewerkschaftsseite abstreitet, es gäbe eine Krise!

Sehr geehrter Herr Staatsminister,

anlässlich der Hauptversammlung der Luxemburger Handelskonföderation (clc) am
9. Juli 2010 sollen Sie Presseberichten zufolge wieder einmal erklärt haben, es gäbe
eine Seite der luxemburgischen Sozialpartnerschaft – gemeint ist wohl die
Gewerkschaftsseite im Allgemeinen und wahrscheinlich der OGBL im Besonderen –
die konsequent abstreite, es gäbe eine Krise. Erlauben Sie mir zu sagen, dass dies
eine Unterstellung ist, die so nicht unbeantwortet im Raum stehen bleiben darf,
auch wenn Sie aus dem Mund des Regierungschefs kommt.

Wenn es Organisationen in Luxemburg gibt, die tagtäglich, und dies bereits seit
2008, mit der Realität der Finanz- und Wirtschaftskrise konfrontiert sind, dann sind
es sicherlich die Gewerkschaften, an erster Stelle der OGBL als die führende dieser
Gewerkschaften. Von schwierigen Kollektivvertragsverhandlungen bis hin zu
unzähligen Sozialplänen und Firmenschließungen haben wir tagtäglich mit dieser
unglücklichen Situation zu tun. Tausende Arbeitnehmer erleiden seit 2008
Kurzarbeit mit erheblichen Einkommenseinbussen und Tausende haben definitiv ihre
Arbeitsstelle verloren. Hinter diesen Opfern der Krise stehen in der Regel noch vier
Mal so viele betroffene Menschen, nämlich deren Familienangehörigen.

Als die Finanzkrise im Jahre 2008 Luxemburg erreichte, war der OGBL damit
einverstanden, dass der Staat rund 3 Milliarden Euro über Staatsdarlehen zur
Verfügung stellte, um die beiden in Luxemburg stark verankerten Banken Fortis
(heute BGL BNP Paribas) und Dexia-BIL vor dem Konkurs zu retten. Damals
funktionierte der Sozialdialog hervorragend. Es standen tausende von
Arbeitsplätzen, Millionen Euro an kleinen Spareinlagen sowie das Image des
Luxemburger Bankenplatzes auf dem Spiel.

Der OGBL war damals auch mit einer antizyklischen Politik einverstanden, die in
erster Linie darauf hinzielte, die Kaufkraft der Menschen und die staatlichen
Investitionen auf einem hohen Niveau zu halten. Diese Politik war richtig und hat
maßgeblich dazu beigetragen, dass die Krise Luxemburg weniger hart traf, als die
meisten anderen europäischen Länder.

Im Einklang mit der europäischen Gewerkschaftsbewegung warnte der OGBL bereits
lange vor den Tripartite-Verhandlungen davor, nicht zu früh aus der die Konjunktur
belebenden Politik auszusteigen. Aus unserer Sicht – und diese wird auch von
eminenten internationalen Wirtschaftswissenschaftlern geteilt – kann eine zu
schnelle Fokussierung auf die Staatsschulden- und Defizite, die sich natürlich auch
aufgrund der Rettung der Banken massiv erhöhten, den wirtschaftlichen
Aufschwung durch übertriebene Sparmaßnahmen, großflächige Steuererhöhungen
und ein Einfrieren der Staatsausgaben gefährden. Wie wir in denjenigen
europäischen Ländern in denen solche Austeritätsprogramme von den Regierungen
und Parlamenten angenommen wurden, sehen, treffen diese Maßnahmen in erster
Linie die kleinen und mittleren Einkommen und attackieren die Kaufkraft der großen
Mehrheit der Bevölkerung mit allen sich daraus ergebenden negativen Folgen für
den so dringend benötigten wirtschaftlichen Aufschwung. Und in Luxemburg ist das
nicht anders, weil die Politik das so will, obwohl Luxemburg das einzige Land der
Eurozone ist, das noch immer die Maastricht-Kriterien respektiert und dessen
Staatsdefizit unter 3% liegt.

Sie, Herr Staatsminister, haben am 14. Oktober 2008, mitten in der Finanzkrise, im
Parlament folgendes gesagt: „Ouni Konsum kee Wirtschaftskreeslaf méi; den
Däiwelskrees ass bekannt“. Dass Sie heute als Politiker sozialer Prägung eine
Haushaltssanierung auf Kosten der kleinen und mittleren Einkommen und deshalb
auf Kosten des Konsums durchforcieren wollen, obwohl sich die Wirtschaftsdaten
von Monat zu Monat verbessern, ist nicht nachzuvollziehen.

Des Weiteren ist Ihre Last-Minute-Fokussierung der Tripartite-Gespräche auf den
Index ebenfalls nicht zu verstehen. Sie, Herr Juncker, der über viele Jahre hinweg
unser bewährtes Indexsystem gegen alle Angriffe von innen und außen verteidigten,
zum Teil mit den gleichen Argumenten wie die Gewerkschaften*, haben in dieser
Frage und zu einem Zeitpunkt von niedriger Inflation eine Kehrtwende
sondergleichen gemacht. Sie wissen natürlich, dass die von Ihnen von neuem ins
Gespräch gebrachte Idee eines gedeckelten Indexes nichts mit Sozialpolitik zu tun
hat. Mit dieser Idee haben Sie nur den Sozialneid geschürt. Wenn Sie die
Einkommensstruktur in Luxemburg sozialer gestalten möchten, dann müssen Sie die
Struktur der Steuertabelle so abändern, dass die höheren Einkommen höher
besteuert werden. Das heißt nämlich auch, dass eine Indextranche für die höheren
Gehälter höher besteuert wird. Sie wissen natürlich, dass der Index an sich keine
sozialpolitische Maßnahme ist, sondern lediglich ein Kompensationsinstrument, das
eine bereits stattgefundene inflationsbedingte Geldentwertung für Lohnempfänger
und Pensionierte ausgleicht. Der Index treibt die Schere zwischen Arm und Reich
nicht weiter auseinander.

Sie als sozialpolitisch geprägter Staatsmann wissen, dass die Familien der in
Luxemburg arbeitenden Personen seit der Desindexierung des Kindergeldes im
Jahre 2006 und aufgrund des desindexierten Kinderbonus seit mehreren Jahren
kontinuierlich an Kaufkraft verlieren. Trotzdem scheuen Sie sich nicht, gerade die
kleinen und mittleren Einkommen jetzt noch einmal kräftig zur Kasse zu bitten,
indem Ihre Regierung zum 1. Januar 2011 eine Krisensteuer von 0,8% einführen,
eine Erhöhung der Solidaritätssteuer um 1,5% sowie eine Halbierung der
Kilometerpauschale durchführen will. Nein, die Halbierung der Wegpauschale reichte
Ihnen noch nicht aus, sie gehen jetzt noch einen Schritt weiter und streichen
außerdem die Vier-Kilometerpauschale, die bereits in den Lohnsteuertabellen
berücksichtigt ist. Sie wissen auch, dass die neue Regelung beim Kindergeld trotz
des neuen Systems der Finanzbeihilfen bei Hochschulstudien zu Einsparungen von
über 30 Millionen € auf Kosten kinderreicher Familien mit kleinen und mittleren
Einkommen und vor allem der Grenzgänger führen wird. Diese Politik ist verwerflich
und Sie haben im Rahmen des vergangenen Wahlkampfs grenzgängerfeindliche
Vorschläge der liberalen Partei strikt abgelehnt. Heute praktizieren Sie selbst eine
solche Politik!

Sie behaupten auch immer im Einklang mit den Patronatsverbänden, die
Gewerkschaften hätten im Rahmen der Tripartite-Gespräche keine Vorschläge für
die Sanierung der Staatsfinanzen gemacht. Auch dies ist schlicht falsch!
Der OGBL hat beispielsweise in den vergangenen Monaten die folgenden, ganz
konkreten Vorschläge gemacht, um zusätzliche Einnahmen zu generieren, die es
möglich machen würden, insbesondere auf die Krisensteuer und die Reduzierung
der Wegpauschale zu verzichten. Diese Vorschläge wurden bis heute von
Regierungsseite mit keinem Wort kommentiert:

  • Eine substanzielle Erhöhung des Spitzensteuersatzes auf Einkommen über 250.000 Euro
  • Einführung einer jährlichen Pauschaltaxe auf den Finanzbeteiligungsgesellschaften (Soparfi) von 3.000 Euro (Mehreinnahmen: 25.000 x 3.000 = 75 Millionen Euro)
  • Eine bescheidene Steuer auf den Net Assets der Investmentfonds von 0,005% (Mehreinnahmen: 95 Millionen Euro)
  • Wiedereinführung der Vermögenssteuer Wenn der OGBL am 12. April 2010 nicht öffentlich die Ihnen bestens bekannten

Sparvorhaben von Finanzminister Frieden abgelehnt hätte, wäre das Sparprogramm
noch viel drastischer ausgefallen. Was für ein Land mit dem niedrigsten
Staatshaushaltsdefizit, den niedrigsten Staatsschulden und der höchsten
Wachstumsrate Europas völlig übertrieben wäre.

Hiermit möchte ich noch einmal betonen, dass es für den OGBL wohl eine weltweite
Wirtschaftskrise gibt, die ursprünglich durch eine nicht nachzuvollziehende, nur dem
Großkapital dienende, Bankenderegulierung durch die Staaten verursacht wurde.
Die Frage ist, wie gehen wir in Luxemburg heute damit um, und welche politischen
Entscheidungen treffen wir, um einerseits die Geschädigten zu entschädigen, den
Aufschwung insbesondere in denjenigen Wirtschaftssparten, die sich innerhalb der
nationalen Grenzen abspielen beispielsweise durch Kaufkraftförderung zu
unterstützen, und andererseits mitzuhelfen, dass auf internationaler Ebene
Maßnahmen getroffen werden, die eine solche Krise in Zukunft verhindern können.
Die Arbeitnehmer und Pensionierten, die Hauptgeschädigten der weltweiten
Wirtschaftskrise, haben durch Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit, Verlust von
Pensionsrechten, Abbau von Sozialleistungen usw. bereits zur Genüge gezahlt.
Heute ist es an der Zeit, dass die Verursacher zur Kasse gebeten und zur
Verantwortung gezogen werden.

Der OGBL ist gerne bereit im Herbst über die Wettbewerbsfähigkeit der
Luxemburger Wirtschaft zu diskutieren. Wir haben uns in der Vergangenheit des
Öfteren diesbezüglich geäußert und gefordert, dass solche Diskussionen
sektorbezogen geführt werden müssten. Pauschale dogmatische Aussagen, die von
außen gesteuert werden, machen in diesem Zusammenhang keinen Sinn.
Luxemburg muss wieder im Sozialdialog seine eigenen Lösungen für seine Probleme
finden. Die letzte Tripartite konnte nicht gelingen, da insbesondere die
Patronatsseite sowie etliche Politiker sich ausschließlich vom neoliberalen Dogma
leiten ließen und nicht von der spezifisch luxemburgischen Situation. Dass die
Wirtschaftswissenschaft keine exakte Wissenschaft ist, beweisen unter anderen die
Arbeiten von Nobelpreisträgern wie Stiglitz und Krugmann, die sich der neoliberalen
„pensée unique“ in vielen Fragen widersetzen. Auch in Luxemburg gibt es
Wirtschaftswissenschaftler, die versuchen, eine objektive Analyse der
Wirtschaftsdaten zu machen. Sie begnügen sich nicht mit den vorgegebenen
Interpretationen der weltweiten Wirtschaftslobby. Deren Analysen werden aber
leider weder von Ihnen selbst noch von den für Wirtschafts- und Finanzpolitik
zuständigen Stellen ernst genommen.

Sie, Herr Staatsminister, als kritischer Beobachter des Zeitgeschehens, müssen
doch auch skeptisch werden, wenn alle internationalen Finanz- und
Wirtschaftsinstanzen das Gleiche erzählen wie die Wirtschaftslobbyisten. Obwohl alle
gemeinsam die Krise nicht kommen sahen und sich weigern, daraus die richtigen
Schlüsse zu ziehen, schreiben sie den Staaten heute die Lösungen vor, um aus der
Krise herauszukommen. Wenn man genau hinschaut sind es genau die gleichen
Rezepte wie vor der Krise: Reduzierung der Sozialetats, Steuerreduzierungen für die
Betriebe und Kapitaleigner, Deregulierung des Arbeitsrechts, usw. Diese Leute sind
immer noch davon überzeugt, dass der total freie Markt alles von selbst reguliert. Es
ist an der Zeit, dass echte Politiker den Mut aufbringen, den ferngesteuerten
Experten das Heft aus der Hand zu nehmen und die Grundlagen zu schaffen für eine
weltweite soziale Marktwirtschaft, die sich an den Kriterien der nachhaltigen
Entwicklung orientiert.

Abschließend möchte ich Ihnen ans Herz legen, dafür zu sorgen, dass sich im Herbst
die Dreierdiskussionen nicht erneut auf den Index konzentrieren, ansonsten es mit
dem OGBL keine Einigung geben kann. Auf diesem Gebiet gibt es den zu diesem
Zeitpunkt bekannten Wirtschaftsdaten zufolge und angesichts der niedrigen Inflation
nämlich überhaupt keinen Handlungsbedarf, außer, dass Sie, Herr Staatsminister,
als Präsident der Eurogruppe sich dafür einsetzen könnten, dass ein solches System
des automatischen Ausgleichs der Geldentwertung für die Arbeitnehmer und
Rentner im gesamten Euroraum eingeführt wird. Das würde nämlich verhindern,
dass der soziale Frieden in verschiedenen Ländern ständig bedroht ist und dass
große Teile der europäischen Bevölkerung in einem Prozess der schleichenden
Verarmung begriffen sind.

Hochachtungsvoll
Jean-Claude Reding
Präsident des OGBL

* Jean-­Claude Juncker,
Déclaration de politique générale, 12.Oktober 2005:
«T gëtt Kreesser hei am Land fir déi reduzéiert d’Kompetitivitéitsfro sech op d’Fro vum Index. Dës Fro stellt sech, mee se stellt sech ëmmer och am Zesummenhank vun der Erhalung vum soziale Fridden: och de soziale Fridden ass ee Standuertargument. Den Index erlabt e Minimum vun organiséierter nationaler Lounpolitik –jiddferengem seng Pei gëtt der Inflatioun ugepasst. D’Indexéierung schaft esou de Fräiraum, deen dezentraliséiert betribsbezunnen Tarifpolitik méiglech mécht. Wann een den Index ofschaft, da gëtt d’ganz Tarifpolitik national an domat manner betribsbezunn. D’Ekonomie – a besonnesch d’Patronat – hunn dobäi nëmmen ze verléieren.
D’Regierung hällt un der Indexéierung vun de Léin a Gehälter fest … d’Indexéierung bréngt d’Kompetitivitéit net prinzipiell a Gefor … Alkohol an Tubak mussen net am Wuerekuerw stoen, d’Petrolsprodukter mussen drastoe bleiwe well hir Erhéijung verdeiert d’Liewe vum Duerchschnëttsbierger an engem gehéierege Mooss.…
Wa mer wëlle komplett kompetitiv bleiwen, da musse mer eis Wirtschaftsinfrastruktur kontinuéierlech kompletéieren.»