Sehr geehrter Herr Staatsminister,
anlässlich der Hauptversammlung der Luxemburger Handelskonföderation (clc) am 9. Juli 2010 sollen Sie Presseberichten zufolge wieder einmal erklärt haben, es gäbe eine Seite der luxemburgischen Sozialpartnerschaft – gemeint ist wohl die Gewerkschaftsseite im Allgemeinen und wahrscheinlich der OGBL im Besonderen – die konsequent abstreite, es gäbe eine Krise. Erlauben Sie mir zu sagen, dass dies eine Unterstellung ist, die so nicht unbeantwortet im Raum stehen bleiben darf, auch wenn Sie aus dem Mund des Regierungschefs kommt.
Wenn es Organisationen in Luxemburg gibt, die tagtäglich, und dies bereits seit 2008, mit der Realität der Finanz- und Wirtschaftskrise konfrontiert sind, dann sind es sicherlich die Gewerkschaften, an erster Stelle der OGBL als die führende dieser Gewerkschaften. Von schwierigen Kollektivvertragsverhandlungen bis hin zu unzähligen Sozialplänen und Firmenschließungen haben wir tagtäglich mit dieser unglücklichen Situation zu tun. Tausende Arbeitnehmer erleiden seit 2008 Kurzarbeit mit erheblichen Einkommenseinbussen und Tausende haben definitiv ihre Arbeitsstelle verloren. Hinter diesen Opfern der Krise stehen in der Regel noch vier Mal so viele betroffene Menschen, nämlich deren Familienangehörigen.
Als die Finanzkrise im Jahre 2008 Luxemburg erreichte, war der OGBL damit einverstanden, dass der Staat rund 3 Milliarden Euro über Staatsdarlehen zur Verfügung stellte, um die beiden in Luxemburg stark verankerten Banken Fortis (heute BGL BNP Paribas) und Dexia-BIL vor dem Konkurs zu retten. Damals funktionierte der Sozialdialog hervorragend. Es standen tausende von Arbeitsplätzen, Millionen Euro an kleinen Spareinlagen sowie das Image des Luxemburger Bankenplatzes auf dem Spiel.
Der OGBL war damals auch mit einer antizyklischen Politik einverstanden, die in erster Linie darauf hinzielte, die Kaufkraft der Menschen und die staatlichen Investitionen auf einem hohen Niveau zu halten. Diese Politik war richtig und hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die Krise Luxemburg weniger hart traf, als die meisten anderen europäischen Länder.
Im Einklang mit der europäischen Gewerkschaftsbewegung warnte der OGBL bereits lange vor den Tripartite-Verhandlungen davor, nicht zu früh aus der die Konjunktur belebenden Politik auszusteigen. Aus unserer Sicht – und diese wird auch von eminenten internationalen Wirtschaftswissenschaftlern geteilt – kann eine zu schnelle Fokussierung auf die Staatsschulden- und Defizite, die sich natürlich auch aufgrund der Rettung der Banken massiv erhöhten, den wirtschaftlichen Aufschwung durch übertriebene Sparmaßnahmen, großflächige Steuererhöhungen und ein Einfrieren der Staatsausgaben gefährden. Wie wir in denjenigen europäischen Ländern in denen solche Austeritätsprogramme von den Regierungen und Parlamenten angenommen wurden, sehen, treffen diese Maßnahmen in erster Linie die kleinen und mittleren Einkommen und attackieren die Kaufkraft der großen Mehrheit der Bevölkerung mit allen sich daraus ergebenden negativen Folgen für den so dringend benötigten wirtschaftlichen Aufschwung. Und in Luxemburg ist das nicht anders, weil die Politik das so will, obwohl Luxemburg das einzige Land der Eurozone ist, das noch immer die Maastricht-Kriterien respektiert und dessen Staatsdefizit unter 3% liegt.
Sie, Herr Staatsminister, haben am 14. Oktober 2008, mitten in der Finanzkrise, im Parlament folgendes gesagt: „Ouni Konsum kee Wirtschaftskreeslaf méi; den Däiwelskrees ass bekannt“. Dass Sie heute als Politiker sozialer Prägung eine Haushaltssanierung auf Kosten der kleinen und mittleren Einkommen und deshalb auf Kosten des Konsums durchforcieren wollen, obwohl sich die Wirtschaftsdaten von Monat zu Monat verbessern, ist nicht nachzuvollziehen.
Des Weiteren ist Ihre Last-Minute-Fokussierung der Tripartite-Gespräche auf den Index ebenfalls nicht zu verstehen. Sie, Herr Juncker, der über viele Jahre hinweg unser bewährtes Indexsystem gegen alle Angriffe von innen und außen verteidigten, zum Teil mit den gleichen Argumenten wie die Gewerkschaften*, haben in dieser Frage und zu einem Zeitpunkt von niedriger Inflation eine Kehrtwende sondergleichen gemacht. Sie wissen natürlich, dass die von Ihnen von neuem ins Gespräch gebrachte Idee eines gedeckelten Indexes nichts mit Sozialpolitik zu tun hat. Mit dieser Idee haben Sie nur den Sozialneid geschürt. Wenn Sie die Einkommensstruktur in Luxemburg sozialer gestalten möchten, dann müssen Sie die Struktur der Steuertabelle so abändern, dass die höheren Einkommen höher besteuert werden. Das heißt nämlich auch, dass eine Indextranche für die höheren Gehälter höher besteuert wird. Sie wissen natürlich, dass der Index an sich keine sozialpolitische Maßnahme ist, sondern lediglich ein Kompensationsinstrument, das eine bereits stattgefundene inflationsbedingte Geldentwertung für Lohnempfänger und Pensionierte ausgleicht. Der Index treibt die Schere zwischen Arm und Reich nicht weiter auseinander.
Sie als sozialpolitisch geprägter Staatsmann wissen, dass die Familien der in Luxemburg arbeitenden Personen seit der Desindexierung des Kindergeldes im Jahre 2006 und aufgrund des desindexierten Kinderbonus seit mehreren Jahren kontinuierlich an Kaufkraft verlieren. Trotzdem scheuen Sie sich nicht, gerade die kleinen und mittleren Einkommen jetzt noch einmal kräftig zur Kasse zu bitten, indem Ihre Regierung zum 1. Januar 2011 eine Krisensteuer von 0,8% einführen, eine Erhöhung der Solidaritätssteuer um 1,5% sowie eine Halbierung der Kilometerpauschale durchführen will. Nein, die Halbierung der Wegpauschale reichte Ihnen noch nicht aus, sie gehen jetzt noch einen Schritt weiter und streichen außerdem die Vier-Kilometerpauschale, die bereits in den Lohnsteuertabellen berücksichtigt ist. Sie wissen auch, dass die neue Regelung beim Kindergeld trotz des neuen Systems der Finanzbeihilfen bei Hochschulstudien zu Einsparungen von über 30 Millionen € auf Kosten kinderreicher Familien mit kleinen und mittleren Einkommen und vor allem der Grenzgänger führen wird. Diese Politik ist verwerflich und Sie haben im Rahmen des vergangenen Wahlkampfs grenzgängerfeindliche Vorschläge der liberalen Partei strikt abgelehnt. Heute praktizieren Sie selbst eine solche Politik!
Sie behaupten auch immer im Einklang mit den Patronatsverbänden, die Gewerkschaften hätten im Rahmen der Tripartite-Gespräche keine Vorschläge für die Sanierung der Staatsfinanzen gemacht. Auch dies ist schlicht falsch! Der OGBL hat beispielsweise in den vergangenen Monaten die folgenden, ganz konkreten Vorschläge gemacht, um zusätzliche Einnahmen zu generieren, die es möglich machen würden, insbesondere auf die Krisensteuer und die Reduzierung der Wegpauschale zu verzichten. Diese Vorschläge wurden bis heute von Regierungsseite mit keinem Wort kommentiert:
Sparvorhaben von Finanzminister Frieden abgelehnt hätte, wäre das Sparprogramm noch viel drastischer ausgefallen. Was für ein Land mit dem niedrigsten Staatshaushaltsdefizit, den niedrigsten Staatsschulden und der höchsten Wachstumsrate Europas völlig übertrieben wäre.
Hiermit möchte ich noch einmal betonen, dass es für den OGBL wohl eine weltweite Wirtschaftskrise gibt, die ursprünglich durch eine nicht nachzuvollziehende, nur dem Großkapital dienende, Bankenderegulierung durch die Staaten verursacht wurde. Die Frage ist, wie gehen wir in Luxemburg heute damit um, und welche politischen Entscheidungen treffen wir, um einerseits die Geschädigten zu entschädigen, den Aufschwung insbesondere in denjenigen Wirtschaftssparten, die sich innerhalb der nationalen Grenzen abspielen beispielsweise durch Kaufkraftförderung zu unterstützen, und andererseits mitzuhelfen, dass auf internationaler Ebene Maßnahmen getroffen werden, die eine solche Krise in Zukunft verhindern können. Die Arbeitnehmer und Pensionierten, die Hauptgeschädigten der weltweiten Wirtschaftskrise, haben durch Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit, Verlust von Pensionsrechten, Abbau von Sozialleistungen usw. bereits zur Genüge gezahlt. Heute ist es an der Zeit, dass die Verursacher zur Kasse gebeten und zur Verantwortung gezogen werden.
Der OGBL ist gerne bereit im Herbst über die Wettbewerbsfähigkeit der Luxemburger Wirtschaft zu diskutieren. Wir haben uns in der Vergangenheit des Öfteren diesbezüglich geäußert und gefordert, dass solche Diskussionen sektorbezogen geführt werden müssten. Pauschale dogmatische Aussagen, die von außen gesteuert werden, machen in diesem Zusammenhang keinen Sinn. Luxemburg muss wieder im Sozialdialog seine eigenen Lösungen für seine Probleme finden. Die letzte Tripartite konnte nicht gelingen, da insbesondere die Patronatsseite sowie etliche Politiker sich ausschließlich vom neoliberalen Dogma leiten ließen und nicht von der spezifisch luxemburgischen Situation. Dass die Wirtschaftswissenschaft keine exakte Wissenschaft ist, beweisen unter anderen die Arbeiten von Nobelpreisträgern wie Stiglitz und Krugmann, die sich der neoliberalen „pensée unique“ in vielen Fragen widersetzen. Auch in Luxemburg gibt es Wirtschaftswissenschaftler, die versuchen, eine objektive Analyse der Wirtschaftsdaten zu machen. Sie begnügen sich nicht mit den vorgegebenen Interpretationen der weltweiten Wirtschaftslobby. Deren Analysen werden aber leider weder von Ihnen selbst noch von den für Wirtschafts- und Finanzpolitik zuständigen Stellen ernst genommen.
Sie, Herr Staatsminister, als kritischer Beobachter des Zeitgeschehens, müssen doch auch skeptisch werden, wenn alle internationalen Finanz- und Wirtschaftsinstanzen das Gleiche erzählen wie die Wirtschaftslobbyisten. Obwohl alle gemeinsam die Krise nicht kommen sahen und sich weigern, daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen, schreiben sie den Staaten heute die Lösungen vor, um aus der Krise herauszukommen. Wenn man genau hinschaut sind es genau die gleichen Rezepte wie vor der Krise: Reduzierung der Sozialetats, Steuerreduzierungen für die Betriebe und Kapitaleigner, Deregulierung des Arbeitsrechts, usw. Diese Leute sind immer noch davon überzeugt, dass der total freie Markt alles von selbst reguliert. Es ist an der Zeit, dass echte Politiker den Mut aufbringen, den ferngesteuerten Experten das Heft aus der Hand zu nehmen und die Grundlagen zu schaffen für eine weltweite soziale Marktwirtschaft, die sich an den Kriterien der nachhaltigen Entwicklung orientiert.
Abschließend möchte ich Ihnen ans Herz legen, dafür zu sorgen, dass sich im Herbst die Dreierdiskussionen nicht erneut auf den Index konzentrieren, ansonsten es mit dem OGBL keine Einigung geben kann. Auf diesem Gebiet gibt es den zu diesem Zeitpunkt bekannten Wirtschaftsdaten zufolge und angesichts der niedrigen Inflation nämlich überhaupt keinen Handlungsbedarf, außer, dass Sie, Herr Staatsminister, als Präsident der Eurogruppe sich dafür einsetzen könnten, dass ein solches System des automatischen Ausgleichs der Geldentwertung für die Arbeitnehmer und Rentner im gesamten Euroraum eingeführt wird. Das würde nämlich verhindern, dass der soziale Frieden in verschiedenen Ländern ständig bedroht ist und dass große Teile der europäischen Bevölkerung in einem Prozess der schleichenden Verarmung begriffen sind.
Hochachtungsvoll Jean-Claude Reding Präsident des OGBL
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